16 Monate als remote Agile Coach [Erfahrungsbericht]

Gastartikel
Dieter Eschlbeck

Ich arbeite sei 1991 als Trainer und Coach für das Projektmanagement. Seit 2011 unterstütze ich auch agil geführte Projekt-Teams und Menschen, die im agilen Umfeld eine Leadership-Rolle wahrnehmen. Als Ingenieur bin ich sowohl in der Entwicklung physischer Produkte als auch im IT-Umfeld unterwegs.

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Der Schock

Im März 2020 wurden beinahe von einem Tag auf den anderen physische Treffen mit meinen Kunden unmöglich. Ausgerechnet während ich ein neu zusammengesetztes Scrum-Team begleitete und wir beim Start viel Wert darauf gelegt haben, dass wir Co-Located arbeiten können. Wie sollte das funktionieren? 

Ich habe in meiner Arbeit als Agile Coach schon immer sehr darauf geachtet, dass die Beziehungs-Ebene stimmt. Sowohl zwischen mir und den Mitgliedern des Scrum-Teams oder derjenigen, die gecoacht werden sollte. Als natürlich auch innerhalb des Teams. Für mich bildet die Beziehungs-Ebene, also die Möglichkeit zum emotionalen (nicht nur zum sachlichen) Kontakt zwischen Menschen die absolute Grundlage für erfolgreiche Zusammen-Arbeit. Erst wenn die Beziehungs-Ebene tragfähig ist, entsteht der Wille, gemeinsam Widerstände zu überwinden, können Lösungen gefunden werden. Erst dann können Silos bröckeln oder wirkliche Verhaltensänderungen durch Impulse des Agile Coaches bewirkt werden.

Wie sollte das nun möglich sein, wenn man sich nicht mehr physisch treffen kann? Es fehlt die Körpersprache, die mir so wichtige Signale liefert, um das Gesagte in den Kontext des Empfundenen setzen zu können. Wie sollte ich weiterhin einen für die Kunden wertvollen Job erledigen können, wenn eine wesentliche Basis nicht mehr vorhanden ist? Wenn eigentlich sogar eine wesentliche Eigenschaft, die meine persönliche Arbeit erfolgreich macht, wegfällt? So dachte ich zumindest und war bekam recht deutliche Zukunftsangst zu spüren.

Die Erkenntnis von heute

Heute, 16 Monate später, habe ich viel dazu gelernt. Nicht nur technisch beim Arbeiten mit Zoom, MS Teams, GoToMeeting, Miro, Spatial oder wie auch immer die Software heissen mag, die beim Remote-Zusammen-Arbeiten unterstützt. Oder bei der eigenen Wirkung vor der Kamera (hier hat mich meine Frau, Expertin für Körpersprache und Wirkung super unterstützt, das war toll!). Sondern ich habe eben auch gelernt, was Remote möglich ist. Meine wichtigste Erfahrung: Ein Eins-zu-Eins-Coaching funktioniert in einer wunderbaren Tiefe, auch ohne dass man sich jemals in Präsenz getroffen hätte.

Ein Beispiel aus der Praxis

So hatte ich die Gelegenheit, Christiane (Name geändert), eine Scrum Masterin, die ein internationales, 16köpfiges IT-Team unterstützte, zu coachen. Schon beim ersten Zoom-Treffen gelang es nach meinem Gefühl, eine gute Vertrauensbasis zu legen. Wir tauschten Privates aus und klärten die gegenseitigen Erwartungen. In der Folge war ich bei vielen Meetings als „Fly on the wall“ dabei, konnte also „Mäuschen spielen“ und beobachten, wie Christiane mit ihrem Team umging. Wo nahm sie eine Führungs-Rolle wahr und sorgte dafür, dass das Team besser wurde? Wo behinderte sie durch ihre straffe Moderation die Selbstorganisation des Teams? Wo waren Konflikte im Team, die sie aufgreifen und klären sollte?

All das wird wunderbar sichtbar, wenn man als Coach wirklich live in Remote-Meetings dabei sein kann. Viel besser, als wenn ich als Person in einem Raum bin und damit einen höheren Einfluss auf das Verhalten der Teammitglieder ausübe. Ein weiterer Aspekt: In einem internationalen Team sind selten alle in einem Raum. Diejenigen, die im Headquarter (in meinem Fall in München) arbeiten, fühlen sich meist enger verbunden als diejenigen, die in anderen Ländern arbeiten. Das passiert mir auch in der Rolle als Agile Coach: Ich fühle mich den Teammitglieder, die ich in Präsenz kennengelernt habe, enger verbunden als den anderen. Das lässt sich kaum vermeiden, nach meiner Erfahrung. Und schafft ein durchaus relevantes Potenzial für Arbeiten auf Nicht-Augenhöhe. Wenn alle Remote unterwegs sind, fällt dieses Ungleichgewicht weg. Eine sehr interessantes Learning für mich!

Neben dem Beobachten gelang es in diesem Beispiel auch, intensiv über die innere Haltung von Christiane ihrem Team gegenüber und in Konfliktsituationen zu reflektieren. Eine Arbeit, die als Scrum Master enorm wichtig ist, um einerseits genügend Sicherheit auszustrahlen, sich andererseits aber nicht zu viel auf die eigenen Schultern zu laden. Wo bin ich als Scrum Master in der Pflicht, einzugreifen? Wo lasse ich Unklarheiten stehen? Wie stark bringe ich mich selbst in den Prozess der Problem-Lösung mit ein (wo ich doch als Christiane mit 20 Jahren Berufserfahrung und hervorragenden Kontakten im Konzern viele Möglichkeiten habe)? Was habe ich selbst davon, mich in bestimmten Situationen mehr oder weniger zu engagieren?

All das schien mir remote kaum machbar zu sein – vor Corona. Die Erfahrung nach nun 16 Monaten intensivem Remote Agile Coaching lehrte mich eines besseren.

Der ungestörte Austausch mit Christiane (sie in in ihrem home office, ich in meinem eigenen Büro) war intensiver, als wenn wir in einem Großraumbüro im Headquarter miteinander gesprochen hätten. Besprechungsräume sind ja seit jeher bei großen Unternehmen Mangelware. Die VideoCalls waren ähnlich intensiv wie Präsenz-Meetings. Den Unterschied zum Telefon macht das Videobild. Es bietet noch einmal deutlich mehr Informationen als nur die Stimme. Technische Schwierigkeiten hatten wir keine. Es war einfacher, schnell zusammen auf Dokumente oder aktuelle Auswertungen in Jira zu schauen, wenn das hilfreich erschien.

 

Erfolgsfaktoren

Zusammengefasst könnte man also sagen, dass folgende Faktoren Remote Agile Coaching erfolgreich machen:

  • große Praxisnähe durch direkte Teilnahme an Meetings möglich, ohne selbst zu stark durch physische Präsenz zu beeinflussen
  • Beziehungsaufbau durch Videocalls im Eins-zu-Eins ähnlich gut wie in Präsenz möglich
  • einfacheres Aufsuchen geschützter Räume durch die Homeoffice-Situation im Vergleich zur Arbeit in der Konzernzentrale
  • flexiblerer Zugriff auf Dokumente oder Systeme, da wir ohnehin am Computer arbeiteten

Fazit

Insgesamt war also die Zusammenarbeit mit Christiane nach meiner Ansicht flexibler, aber genauso intensiv wie das in Präsenz möglich gewesen wäre. Das spiegelte mir auch das Feedback von Christiane am Ende unserer Zusammenarbeit wider. Sie war sehr zufrieden, bedankte sich und meinte, dass das Coaching einen guten Anteil daran hatte, dass sie nun eine neue Rolle übernehmen kann: Führungskraft für eine agil arbeitende Einheit von etwa 90 Entwicklern. Herzlichen Glückwunsch!

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Ralf Kruse